Wenn ein Wasserlauf versiegt, dann fehlt was. Die Landschaft ist nicht mehr so lebendig. Oswald hat jetzt so seine Probleme damit. Und andere auch. Aber was hat das alles mit einem Frühstück zu tun? Jede Menge ... irgendwie.
Das weltschlechteste Frühstück und seine Folgen
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Trauergäste,
es ist schon reichlich Jahre her, da stand ich mit Thadäus Wasserlauf im Foyer eines kleinen Hotels in Kingman, Arizona. Wir mussten erschüttert feststellen, dass kein Frühstück angeboten wurde. Der Grand Canyon war an diesem Tag Programmpunkt, ebenso wie das Monument Valley. Unmöglich, all das ohne morgendliche Stärkung anzugehen, und so suchten wir im Vertrauen auf die Segnungen nordamerikanischer Dienstleistungen nach einer Alternative. Unsere Erschütterung steigerte sich bei der Erkenntnis, dass nicht eines der sonst so zahlreichen Lokale auch nur den Ansatz einer Aussicht auf Rührei und Speck bot. Das lag daran, dass es seltsamerweise keines gab. Einzig die Firma Burger King hatte geöffnet. Thadäus, den die meisten, wie ich, wohl nur als Teddy kannten, motivierte mich, das dortige Breakfast auszuprobieren, man müsse schließlich offen sein für Neues. Nie, meine Damen und Herren, nie werde ich sein Gesicht beim Anblick dieser dürren Speckstreifen und eines wässrig-wackelnden Rühreis vergessen, das man uns in einer Kunststoffverpackung und mit Plastikgabel wagte vorzusetzen, garniert von einem lauwarmen Gebräu im Plastikbecher.
„Oswald, versprich mir was, sollte ich das hier überleben.“
Ich hatte nicht weniger mit der Optik des angeblichen Frühstücks zu kämpfen und war Teddy deshalb durchaus dankbar, dass er meine Konzentration auf seine Worte lenkte.
„Es gibt ja Etliche“, fuhr er fort, „die sagen, wenn ich irgendwann mal sterbe, müsste man meine Sabbelschnute extra tothauen. Das mag stimmen, aber ich habe eine Hoffnung für sie. Es reicht, der Schnute einfach noch mal dieses Zeug vorzusetzen, dann sollte das erledigt sein.“
Liebe Trauergäste, der weite Weg nach Arizona war nicht erforderlich. Der Tod macht seine Arbeit gründlich. Kein Extra-Auftrag in Sachen Schnute.Teddy bleibt das erneute Verspeisen dieses unsäglichsten aller Frühstücke erspart, nur Ihnen hab ich jetzt ein Bild in den Kopf gesetzt, das ich wieder da raus bekommen muss.
Wir saugten damals die unglaublichen Panoramen dieser Ecke der Welt in uns auf. Am Ende des Tages saßen wir, triefend vor Glückseligkeit und mit dem roten Staub des Monument Valley in jeder Pore, an der Bar des nächsten kleinen Hotels. Teddy nippte an einem Caipirinha, während ich mir ein schlichtes Bier einverleibte.
„Im Ernst“, sagte er, „du musst mal meine Grabrede halten. Ich weiß sicher, dass du die beste Besetzung bist, um mich würdig in Grund und Boden zu reden.“
Er sei zu dieser Erkenntnis gekommen, weil ich mit einem Drittel an Worten auskäme und er außerdem darauf vertrauen könnte, dass die Leute auch etwas zum Schmunzeln kriegen.
So sitzen Sie, verehrte Damen und Herren, nun hier und müssen mir zuhören. Natürlich hab ich mich gefragt, ob das weltschlechteste Rührei mit Speck auf eine Trauerfeier ein angemessenes Bild abgibt, kam dann jedoch zum Resultat, dass geteiltes Leid ein halbes ist. Sogar jetzt, nach über dreißig Jahren und im Angesicht der Tatsache, dass Teddys Sabbelschnute ausgeplaudert hat. Oder wahlweise: Herr Wasserlauf ist versiegt. Es war sein latenter Sarkasmus, der Ehrlichkeit durchblicken ließ, der aber reichlich verstören konnte. Und es hätte ihm bestimmt gefallen, das hier und heute selbst so auszudrücken. Da er nicht mehr kann, tue ich es.
Teddy hat viel und gerne geredet. Vorzugsweise von etwas, das für andere bedeutungslos geblieben wäre. Es sind die kleinen Dinge und Momente gewesen, die er unter die Lupe nahm und an denen er sich regelrecht ergötzte, während er das Große und Ganze um sich herum ausblendete. Manche von Ihnen wissen vielleicht von seiner Begeisterung für das Bergsitzen. Ich schaue mich mal um ... Bergsitzen? Wer das Wort noch nie aus seinem Munde gehört hat, wird sich gewiss fragen, was es bedeutet.
Nun, Bergsitzen machte Teddy stumm. Die Sabbelschnute stand still, wenn er sich winzig zu fühlen begann. Auf einem Hügel konnte er Stunden hocken und einfach nur die Gegend betrachten. Manchmal begleitete ich ihn bei so etwas und bekam einen Eindruck, was für Bilder in seinem Hirn herumgeschwirrt sein müssen. Er erkannte Formen in der Landschaft. Der sechsfüßige Hase war so eine. Erst nach ausgiebigen Erklärungen, wie sich eine Kuppe, zwei Eichenwäldchen, eine Kiesgrube und diverse Zäune miteinander arrangierten, entwickelte ich eine Vorstellung davon, was er meinte. Er sah in der Kuppe den Kopf, die Eichenwäldchen bildeten die Löffel des Hasen, die Kiesgrube war sein Leib und die Zäune ergaben in ihrer Stellung zueinander sechs Füße. Meine Anmerkung, dass es schon sehr abwegiger Gedanken bedurfte, um das zu erkennen, konterte er mit dem Satz, den ich mir wohl bis an mein eigenes Lebensende merken werde: „Mag sein, aber wer nicht über das Abstruse hinausdenkt, der wird das Außergewöhnliche nicht sehen.“ Seither versuche ich, es ihm nachzutun. Mit geringem Erfolg. Was daran liegen kann, dass ich für einen sechsfüßigen Hasen bisher noch keine rechte Verwendung hatte. Doch durch Teddy weiß ich: Die Schuld dafür liegt ganz bei mir.
Ihnen wollte ich dieses tierische Bild allein deshalb weiterreichen, weil es eine ernsthafte Chance bietet, das unsägliche Wasser-Rührei mit Knorpel-Speck zu verdrängen. Stellen Sie sich als Nächstes diesen Hasen lächelnd vor. Wie eine Einladung, in ihm das zu sehen, was Sie vom Gewohnten wegführt. Teddy ging es, glaube ich, auch irgendwie um Linderung. Es gab so Vieles, das ihn wahrlich entsetzt hat. Mit Grobheiten von Menschen konnte er nie umgehen. Rücksichtslosigkeit anderer schockierte ihn zu oft. Und so brauchte er seine Bilder, um etwas dagegen zu setzen. In seine Welt zu gehen, eröffnete die Chance, die schlechte draußen für eine Weile vor die Tür zu schicken. „Schäm dich, Welt! Du gehst jetzt mal zehn Minuten raus und denkst darüber nach, wie du dich bessern kannst.“ Wie ein Lehrer ein unerzogenes Gör maßregelt, um es danach in die Gemeinschaft zurückzuholen. Das machte er übrigens auch immer wieder mal mit sich selbst.
Teddy Wasserlauf ist tot. An der Tatsache kommen wir nicht vorbei. Sie steht hier mit seinem Sarg förmlich vor uns. Trotzdem kein Grund, Trübsal zu blasen, hätte er gesagt. Er wird uns als Wadi erhalten bleiben, das wir von Zeit zu Zeit mit Wasser füllen können. Letzte Woche sahen wir uns kurz. Ich fragte ihn, ob das mit der Trauerrede noch gelte. So wenig Kraft konnte er gar nicht haben, um nicht heftig zu nicken.
„Richte den Leuten aus, Oswald, dass ich mit meiner Bilanz zufrieden bin. Und erzähl zum Abschluss meinen Lieblingswitz.“
Meine Damen und Herren, an der Stelle verzog ich das Gesicht, doch er duldete keinen Widerspruch. „Du musst,Oswald, es ist mein allerletzter Wunsch“, sagte er und ich wusste, dass es mir nicht erspart bleibt. Der Witz ist … na ja, aber ich glaube, er liebte ihn so, weil es eines der Bilder war, die ihn auf die andere Seite brachten im Leben, auf die, wo er dem Gewohnten auf den Rücken schauen konnte.
Also, bringen wir es gemeinsam hinter uns. Was, verehrte Trauergäste, ist klebrig und schwingt von Baum zu Baum? Wortmeldungen sind erwünscht. Nicht? Gut. Die Antwort lautet: Tarzipan!
Erschütternd, oder? Ähnlich wie das Frühstück. Aber wir haben als Gegengewicht diesen klebenden Baumschwinger, wir haben einen lächelnden Hasen und, sollten Sie sich ab und zu in Teddys Fußstapfen bewegen wollen, noch viel mehr.
Mein Lieber, schau dich schon mal da um, wo du jetzt Bergsitzen machst. Und erzähl einfach davon, was du siehst, wenn dir danach ist. Deine Sabbelschnute höre ich, egal wie weit du weg bist.