„Die Reha“ ist sowohl eine Ortsangabe wie eine Maßnahme. Und ein besonderes Haus, denn hier ballt sich der Teil der Gesellschaft, der aus irgendeinem Grund des Wiederaufbaus bedarf. Als Krücke war ich aber sowas von mittendrin.
Das Leben geht weiter ... auch wenn's humpelt - Teil 2
Auf die Menschen, denen man in so einer Reha-Einrichtung begegnet, komme ich immer wieder mal zwischendrin, muss aber jetzt dringend das Nervtötendste des Hauses loswerden. Allen zur Warnung, die nach Nümbrecht reisen, um sich selbst zu rehabilitieren, oder einem Patienten einen Besuch abstatten wollen. Dass Aufzüge ihre Türen öffnen und schließen, das ist völlig normal. Aber hier bekommt man es jedes Mal gesagt. Die Automatenstimme (weiblich) plärrt:
„Erdgeschoss ... Tür öffnet.“
Und natürlich auch, wenn sie zugeht. Das Faszinierende ist, dass man auch im Untergeschoss hört, wenn im zweiten Stock die Aufzugtür schließt. Die Dame im Automaten hat dann doch ein durchdringendes Organ. Mehr als einmal fragte ich mich, was Blinden wohl solche Ansagen nützen, die vom Nebenaufzug auf allen Etagen zu hören sind? Zwischendrin war ich dennoch so infiziert von „Drittes Obergeschoss, Tür schließt“, dass ich mir das daheim für die Wohnungs- und die Haustür gewünscht habe. Ich hatte mich in die Stimme verliebt, ohne es zu merken. Doch sie ist so programmiert, dass ich sie erfreulich schnell vergessen habe. Nur hier beim Schreiben hab ich sie wieder im Ohr. Und weil es in meinen Notizen steht.
Nahezu täglich erhält man Physiotherapie. Ich bin, das sei erwähnt, versiert bei der Betrachtung jener Berufsgruppe. Meine leidlich nun zwanzigjährige Hüft-Story hat mich an gefühlten Myriaden dieser Spezies vorbeigeführt. Mindestens lernst du als Patient, wer dir hilft und wer nur streichelt. An Tag zwei ist da einer der wenigen Männer, die mir zugeteilt wurden. Ein ganz softer. Nach der Behandlung fühle ich mich, als hätten wir mal über meine Probleme gesprochen. Hat er mich auch berührt? Ist mir kaum aufgefallen. Es blieb – zu unser beider Glück - die einzige Begegnung.
An Tag 3 dann das erste Zusammentreffen mit meiner späteren Lieblingstherapeutin. Muss ich so klar sagen. Ich habe mich immer gefragt, wie man bei jemand im mehr oder minder frisch operierten Zustand ein Iliosacralgelenk wieder in die Spur bekommt. Sie hat es vollführt. Wenn du rausgehst und die Schmerzen sind weg, dann weißt du, dass du „die Richtige“ getroffen hast. Es gab noch andere in den Nümbrechter Wochen, auch Gute, doch keine wie sie. Ach ja: Bevor da Zweifel aufkommen ... so ein sakrales Gelenk hat jeder, auch wenn es sehr religiös klingt. Einfach mal in sich reinspüren.
Die Rhein-Sieg-Klinik ist ein Haus der Farben. Stationsschwestern sind weiß. Ärzte sowieso. Die Damen im Speisesaal sind auch weiß, aber nur obenrum. Zur Unterscheidung von spritzendem und pflegendem Personal tragen sie eine schwarze Hose. Reinigungskräfte sind mittelblau, Schubkräfte dunkelblau. Letztere heißen so, weil ihr Auftrag das Befördern von Rollstuhlpatienten innerhalb des Hauses ist. Farbliche Vielfalt ist nur bei therapeutischen Kräften erlaubt. Bordeaux, grau, hellblau oder ein recht dunkles orange. Rezeptionistinnen gucken immer beschäftigt und sind meist gestreift. Verwaltungsmitarbeiter sind Farbanarchisten, die tragen, was sie wollen, fallen ansonsten lediglich durch einen stets angestrengten Blick auf.
„Erdgeschoss ... Tür öffnet.“
Das Mobiliar im Foyer ist mit „unterschiedlich“ recht treffend beschrieben. Da sind längs gestreifte Sessel, quietschgrüne, lindgrüne und getüpfelt braune. Stühle gibt es in verschiedenen Bezügen, mal mit, mal ohne Armlehne. Und dann gibt es die Bänke aus Plastik mit ihren „feuchtigkeitsspendenden Oberflächen“, darin ist auch im Winter eine schwitzende Rückfront garantiert. In was von all dem man sich gerne setzt, das hängt davon ab, woran man operiert worden ist.
Morgens um sechs Uhr wird im Eingangsbereich der Klinik Polnisch gesprochen. Mittelblau spricht übrigens fast ausschließlich diese Sprache, wie mir scheint. Oder anderswie osteuropäisch. Mittelblau wechselt nach der Reinigung der Foyers im Erd- und Untergeschoss auf die Stationen und wird unten dann fast nicht mehr angetroffen. Die Damen schieben sehr große Wagen vor sich her, in denen man viel unterbringen, aber auch herausholen kann.
Der Vergleich klingt zwar etwas brutal, aber falsch ist er nicht: Tiere im Zoo wissen sehr genau, wann sie gefüttert werden. Bei Patienten ist es nicht ebenso. Die Deutschen erkennt man daran, dass sie um 11:31 Uhr auf ihr Handgelenk blicken, wenn um 11:30 Uhr eigentlich die Tür aufgehen soll. Doch auch andere Nationen scharren mit den Hufen. Sie reden jedoch nicht drüber.
Ich muss schon wieder zu den Aufzügen kommen. Unabhängig von der sedierenden Automatenstimme ist es am besten, wenn man die Lifte nicht braucht. Auf viele Menschen hier trifft das aber nicht zu. Fällt ein Aufzug aus, entlädt sich die Anspannung des Termindrucks vor den sich nicht öffnenden Türen.
„Isch hab doch um halver zehn Theraaaaaband!“
„Un isch Entspannung! Nix als Stress hier!“
Um die Therabandgruppe oder die progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen zeitgerecht zu erreichen, muss man dann schon mal eine Viertelstunde Weg im Haus einplanen. Öffnet sich eine der Lift-Türen, beginnt so eine Art Ballett aus Rollstühlen, Rollatoren und Gehstützen, manchmal auch Gepäckwagen. Gemeinschaftlich prüfen Mensch und Material, wie viel noch in den Transportkasten hineingeht. Die Masse, die nicht mitfahren darf, wabert vor die anderen Türen und verfällt dort in eine energiesparende Starre, bis irgendwo wieder was aufgeht. Das Ballett beginnt von vorn.
Stressfrei Aufzugfahren kann man vor 6 und nach 21 Uhr.
„Untergeschoss ... Tür schließt.“
Überall hängen Hand-Desinfektoren. „Pffffffffffft“, brummt es beim Drunterhalten der Hände und zumindest die eigenen Greifwerkzeuge sind dann keimfreier. Den ein oder anderen Zeitgenossen möchte man gelegentlich komplett drunterstellen.
Ich erwähnte die Physiotherapie. Das Spannende an diesen Einheiten ist die Abweichung zwischen dem Begrüßungs- und dem Diagnoseblick. Ersterer bittet mich freundlich hinein und bleibt auf dem Gesicht, bis ich meinen Platz auf der Liege eingenommen hat. Dann die entscheidende Frage: „Wie geht’s?“ Der Blick wechselt jetzt in einen Modus aus der Rechtswissenschaft. „Alles was Sie jetzt sagen, kann bei Gericht für oder gegen Sie verwendet werden!“ Dieser Satz wird nicht ausgesprochen, aber ich ahne ihn. Die therapeutischen Augen verengen sich eine Winzigkeit, die Ohren kommen um drei Grad Neigung nach vorne. Bei Schlüsselworten meine ich, die Finger bereits zucken zu sehen. Forrest Gumps Mama verglich das Leben mit einer Pralinenschachtel. Bei der Physiotherapie ist es ganz ähnlich: Man weiß nie, was man kriegt. Quälen sie einen, oder gibt es eine Pflege-Einheit? Zur Entlastung meiner Lieblingstherapeutin (und auch der anderen) sei eingestanden: Beide Möglichkeiten wollen ja nur das Beste für mich.
Im Haus herrscht viel Bewegung, auch oder gerade, weil man wegen Krankheit hierher kommt. Rollstuhlmenschen fahren vor- und rückwärts. Und sie haben einen vermutlich automatisch im Sitzen ausgelösten Zwang, an Engstellen stehen zu bleiben. Geht bei ihnen nichts mehr, gilt das auch für den Rest davor und dahinter. Andererseits ist das sehr kommunikationsfördernd, denn Menschen treffen sich beiderseits der beräderten Korken im System, reden mit- oder übereinander.
„Jehtet hier dann auch ens weiter?“
„Weiß isch nit. Irjendwat is da.“
„Na ja, et liegen keine Knochen auf’m Boden, jestorben is hier als noch keiner.“
Besonderen Schwung erhalten diese Unterhaltungen im Speisesaal, wenn das Buffet durch eine verschlossene Engstelle nicht erreicht werden kann. Selbst ungeduldige Beobachter können an diesen Passagen leicht sehen, wie Naturgesetze wirken.
Und noch mal die Aufzüge, wie mir scheint, ein sehr zentrales Element der Klinik. Ein zumindest in Nümbrecht sehr beliebter Satz bei Menschen, die zusteigen, ist: „Dann bin ich schomma drin.“ Nicht wenige, die eigentlich ins Untergeschoss wollen, fahren mit diesem Satz zunächst auf die vierte Etage. Es sind jene, die im Ballett vor den Türen zwar gewonnen, aber unterm Strich doch die Nerven verloren haben. Immerhin ... auf den ungewollten Stockwerken erhaschen sie für einige Momente Blicke in fremde Welten.
Das therapeutische Zentrum der Klinik ist das Untergeschoss. Hier gibt es Unmengen an Behandlungsliegen, ein launisches WLAN (wie übrigens im ganzen Haus), Treffpunkte für Walking und Rehasport, den Friseur, eine orthopädische Werkstatt, ein Schwimmbad, eine Muckibude und die Cafeteria.
Letztere hat (kein Scherz!) Kuchen von wirklich hoher Qualität und ist deshalb für das Reha-Gesamtkonzept von erheblicher Bedeutung. Für die Patienten, die wegen Gehstützen oder Rollatoren keine Hand frei haben, liefert der Service bis an den Tisch. Wenn es günstig läuft, gibt es auch ein Lächeln und die Serviette ist beim Transport nicht weggeflogen.
In der Cafeteria lässt sich vielerlei kaufen, dass sich beim Wiegen vor der Entlassung negativ bemerkbar macht. Aber auch – und ich hab ihn erst sehr spät überhaupt bemerkt – einen Ständer mit Kuscheltieren. Vielleicht sind die Viecher ein Beruhigungsmittel für Besuchskinder, aber mehr Freude hatte ich an der Vorstellung, dass Klinik-Bewohner der textilen Zärtlichkeit bedürfen, um zum Beispiel besser einzuschlafen. Denn Schlafstörungen sind weit verbreitet. Ebenso wie Verstopfung, aber das ist eine andere Geschichte. Ich glaube ja, wer in der Cafeteria ein Plüschtier für sein eigenes Bett kauft, der macht das wie beim Kondomkauf im Supermarkt. Die Schutzhütchen bringt man ja auch immer für einen Freund mit, der sich nicht traut.
„Untergeschoss ... Tür öffnet.“
Apropos Schutzhütchen. Es gibt spezielle Gehstützen für den Nassbereich. Sie sind gelb. Wer ins hauseigene Schwimmbad will oder muss, der tauscht vor der Umkleide wie beim Boxen-Stop seine privaten gegen die Regenreifen und erhöht damit seine Geländegängigkeit im Feuchtgebiet. Verschiedene Größen haben die Springstöcke für den Wassergraben, die Stelzen für das Aqua-Jogging. Sehr neckisch sind übrigens kleine Plastikkästchen direkt unter den Handgriffen, in denen man vom Zimmerschlüssel bis zum Haargummi alles ablegen kann, was man nicht ins Wasser mitnehmen möchte.
Wer vom Bad aus nur ein paar Meter weiter geht, der kommt in den Bereich, den ich persönlich „Radeln im Flur“ nenne. Hier stehen vier sogenannte Sitzfahrräder. Allein das Wort ist interessant. Denn man könnte ja denken, dass es auch Fahrräder gibt, auf denen nicht gesessen wird. Gemeint ist natürlich, dass man auf einem Stuhl vor Pedalen sitzt, manchmal auch im eigenen Rollstuhl. Spätestens dann ist das Wort Fahrrad wiederum seltsam, denn es fährt nicht. Es rollt nicht einmal. So bietet das Sitzfahrrad neben seiner therapeutischen Wirkung wunderbare Chancen, sich während der zwölf Sitz-und-nicht-Fahr-Minuten Gedanken über andere mögliche Bezeichnungen für dieses Gerät zu machen. Ach ja, eine Warnung: Das Rad vorne rechts stellt in Eigeninitiative immer den Tretwiderstand hoch. Für Frischoperierte eine echte Plackerei!
Ich liebe ja endemische Bezeichnungen. Wie bei Tieren, die nur auf einer bestimmten Insel vorkommen, entwickeln Reha-Kliniken Wörter, die nur dort zu finden sind. Therapieformen heißen, wie sie halt heißen. Eine Lymphdrainage ist immer eine Lymphdrainage. Niemand würde dazu „Hochkneten von Gewebswasser“ oder etwas ähnlich Kurioses sagen. Selbst LD hab ich nie als Abkürzung dafür gehört. Aber Krafttraining heißt hier einfach nicht Krafttraining. Es bekommt ein Mäntelchen übergezogen, auf dem steht „Medizinische Trainingstherapie“. Und man fühlt die kleine Rebellion gegen diese gestelzte Formulierung im ersten Moment, in dem man sie hört. Oder in volkstümlich erklärt:
„Was hast’n jetz?“
„Ich geh MTT.“
Und es ist der einzige Sektor im Haus, in dem das, was man macht, auch so wie der Ort heißt, an dem man es tut! Hier ändert sich auch der Artikel! Aus „DIE Medizinische Trainingstherapie“ wird ohne großes Zögern eine Ortsangabe: „DAS MTT“. Es st ein ganz normales Fitnessstudio, das keine Trainingswünsche offenlässt, es hat sogar eine Kletterwand, auch wenn an der nicht mehr als die übliche Deckenhöhe zu überwinden ist.
Meine läuferischen Fähigkeiten haben sich über die Dauer meines Aufenthalts kaum entwickelt. Das liegt an der immer noch geltenden Teilbelastung. Aber die Kraft kommt ein bisschen zurück. Das Hieven meines Beines ins Bett ist schon nach etwas mehr als einer Woche wieder problemlos möglich. Woanders muss ich mein Bein zum Glück nur selten heben. Ausnahme ist noch die Hüftgymnastik-Gruppe. Aber hier tun wir es in Gemeinschaft und auch ohne sichtbare Folgen. Obwohl, die Neuen verziehen meist das Gesicht (hab ich am Anfang ja auch gemacht).
Wenn ich laufe, dann zunächst im Dreipunkt-Gang. Dabei rahme ich das operierte Bein mit den Stützen ein. Erst eine Woche vor der Heimfahrt darf ich auf vier Punkte wechseln, wenn rechtes Bein und linke Stütze parallel aufgesetzt werden, ebenso wie kurz darauf linkes Bein und rechte Stütze. Und liebe Mitmenschen da draußen ... es sieht nur wie ein Pünktchen aus, was dazukommt, aber wenn man keine Muskeln im Hintern hat, dann wünscht man sich, der Punkt sei ein Apostroph! Das hängt nämlich in der Luft und würde die Belastung verringern. Die ersten Vierpunktgänge fanden auf dem Flur vom Zimmer zum Aufzug statt. Dann hat mir meine rechte Backe verraten, was sie von dieser Strategieänderung hielt. Doch nach und nach merkt sie ... sie muss. Auch wenn sie nicht will.
„Drittes Obergeschoss ... Tür öffnet.“
Was ich mir in der Zeit in Nümbrecht immer wieder erarbeiten musste, das ist das Verständnis für Einzelteile meines Leibes. Zum Piriformis entwickelte ich eine besondere Beziehung. Schon seit Jahren, aber hier intensivierte sie sich noch einmal. Dieser kleine, so unscheinbar wirkende Muskel in der eigenen Sitzfläche besitzt eine Macht, die ich lange unterschätzt habe. Indem er sie ausspielt, erfährt er eine Wandlung zur Persönlichkeit. Doch, wirklich ... ich habe mich dabei erwischt, mit ihm zu sprechen. Anfangs sind solche Unterhaltungen einseitig. Ich motze, er schweigt. Sobald ich mich bewege, antwortet er aber dann doch. Und ich weiß aus Erfahrung, dass er fast immer das letzte Wort hat. Nur bei meiner Lieblingstherapeutin (Streichler gehen da nicht ran, sie schon), da wird er kleinlaut. Haha, da kriegt er Saures. Auch wenn ich auf der Liege gelegentlich gegen aufsteigendes Wasser in den Augen kämpfe ... meinen Mund umspielt ein Lächeln. Nimm dies, Schurke!
Doch zurück ins Haus. Besonders das Untergeschoss ist geeignet, einen an der gewohnten Zahlenfolge zweifeln zu lassen. Betritt man die Wasser-Zone und schaut im Flur nach links, sieht man Zimmer U 80 und direkt daneben ... genau ... U 86. Nur als aufgeklärter Geist bleibst du an dieser Stelle stehen und fragst dich, was denn wohl mit den armen fünf dazwischen passiert ist. Der Reflex des Um-sich-Blickens führt zur Lösung. Sie sind auf der anderen Seite des Flures, exakt gegenüber in einer Ausbuchtung. Warum man Patienten allerdings mit dieser orientierungsverwirrenden Aufgabe belastet ... ah, Moment, ich verstehe. Geistige Beweglichkeit! Das gehört zum therapeutischen Gesamtkonzept. Bitte verzeihen Sie die Frage.
Über einen Bereich des Hauses hab ich ja noch gar nicht gesprochen.
„Terrassentür öffnet.“ (Das hab ich nur hierhin geschrieben, um zu prüfen, ob Sie noch aufpassen, denn natürlich sagt die Tür in die Freiheit nichts, wenn sie sich bewegt!)
Streng genommen gehört dieser Sektor auch nicht zum Haus, denn er liegt ja draußen davor. Dort gibt es neben einem riesigen Sonnenschirm und einem ebensolchen Schachspiel auch eine nicht minder kleine Raucherzone. Um die Nutzergruppe mit ihrer Sucht öffentlich zu brandmarken, steht es oben drüber. Und da sitzen sie dann, die an den Stängeln saugen müssen. Bis tief in die Nächte. Eine immer latent hüstelnde Personenmenge, deren ausgestoßene Schwaden sich die Hauswand hochquälen. Aber eines muss man ihnen lassen ... also, nicht den Schwaden, sondern den Leuten: Das scheinen hier die glücklichsten Patienten zu sein. Nirgendwo herrscht bessere Stimmung als in der Nikotin-Arena. Sie nehmen ihr Schicksal nicht nur mit einem Husten, sondern auch mit einem Lächeln, jedenfalls deutlich mehr als andere, die mit dauerverkniffenen Lippen durch das Haus gehen.
Eines ist nicht zu leugnen, so miesepetrig manche dreinblicken Tag für Tag: Dieses Haus ist eines, in dem sich die Dinge bessern. Nach und nach und Schritt für Schritt. War ich eine ganze Weile abhängig vom Aufzug, so nahm ich – trotz Gehstützen – in der letzten Woche nur noch die Treppe. Am Schluss meiner Zeit waren im Zimmer erste Schritte ohne Stützen bereits wieder möglich. Kurze, wackelige, schmerzhafte ... und doch stolz machende.
Bei all dem medizinischen Hintergrund ist mir im Nachhinein ein Bereich als sehr bedeutsam aufgefallen. Anfangs erscheint er wenig wichtig, weil irgendwie so normal. Man kommt an, bezieht sein Zimmer, alles gut. Und dann geht man zum ersten Mal zum Essen.
„Sie sitzen ab das nächste Mal Tisch 13!“
Die Dame mit dem wundervoll slawischen Akzent sagt so Simples. Und doch so Wichtiges. Denn zu welcher „Truppe“ man da kommt, das hat durchaus einen Wert für sich. Als ich meine erste Speisung erfahre, stoße ich zu einem Sicherheitsmann aus dem Bonner Post-Tower mit neuer Hüfte, einem ehemaligen Polizisten, der bei einem Angriff vor seinem Haus schwer verletzt wurde, und einem Zahnarzt aus dem Sauerland mit thüringischem Klang, der ebenfalls mit Ersatzhüfte hier sitzt. Man(n) schweigt. Und es kostet mich Tage, dieses zu brechen. Immer wieder komme ich mir vor wie einer, der fragt: „Und, liebe Kinder, was habt ihr denn in den Ferien so erlebt?“ Ganz langsam entsteht ein Gespräch, geht es auch einmal um Dinge, die nicht im Therapie-Plan stehen.
Dann geht der Sicherheitsmann. Drei Tage bleibt sein Platz leer. Und dann kommt Klaus (Name natürlich wieder geändert). Klaus ist Oberfranke und für seine Herkunft erstaunlich gebräunt. Dass es dazu einen Hintergrund gibt, erfahre ich schon recht bald, denn Klaus ist erstens deutlich redseliger als sein Vorgänger und außerdem auch an persönlichem Background interessiert. Es bleibt also nicht nur beim Palaver über seine und meine Hüfte. Seine Geheimnisse behalte ich diskret für mich. Damit sind es jetzt zwei Plaudertaschen an Tisch 13 und so tauen auch die anderen beiden langsam auf. Nach fünf Tagen in dieser Konstellation kommt der „entscheidende“ Switch. Ex-Polizist und Zahnarzt gehen am gleichen Tag und noch am selben Abend kriegen Klaus und ich zwei Neue.
Es kommt Werner, ein 82-jähriger ehemaliger Werkzeugmacher, der fast fußläufig von der Klinik entfernt lebt und sich aktiv fragt, warum er diese Reha eigentlich machen soll, es wär doch alles bestens. Und Carla, Endvierzigerin aus Hessen, die mit ihrer 55-Kilo-Hündin in einem der 16 Hundezimmer des Hauses wohnt. Endlich also eine Frau am Tisch. Während Werner nur hört, worauf man ihn konkret anspricht, oder das, was er selbst sagt, weil er nämlich sein Hörgerät daheim gelassen hat (das nervt nur), hat Carla ihre Augen und Ohren überall. Über die Hundegemeinschaft und entsprechende Spaziergänge bekommt sie viel mit, ist aber auch ansonsten höchst interessiert an ihrer Umgebung und den sich darin bewegenden Figuren.
Wir am Tisch profitieren davon, sind wir doch stets auf dem neuesten Stand. Und es ist lustig an der 13. Immer wieder feuchte Augen, weil wir uns amüsieren. Das fällt auf. Im Saal. Am Nebentisch sitzt Motzki. Ich nenne ihn so. Er trägt nie was Anderes als ein rotes Shirt und eine khakifarbene Hose. Er fühlt sich verpflichtet, uns wissen zu lassen: „Wir sind doch nicht zum Lachen hier!“ Wer Dummes sagt, dem fällt bloß grad nichts Besseres ein. Mancher Teil des Therapiekonzeptes steht nirgends geschrieben. Wir an Tisch 13 wussten, dass Heiterkeit zum Gesunden durchaus hilft. Wir sahen mitleidig über seinen Verbalausfall hinweg.
Wen hab ich denn so besonders in Erinnerung? Der Erste ist ein Brocken von einem Mann, hat einen Bart bis aufs Brustbein, dafür auf dem Kopf keine Haare, reichlich Tätowierungen und er trägt eine Kette, die selbst einem Rottweiler zu schwer wäre. Sein lang gezogenes und ultra-tiefes „Guuuuuuten Morgen“ am Buffet in meinem Nacken, das hat sich gesetzt. Dann der Dauerraucher mit Rollator, der wirklich unglaublich freundlich ist und immer grüßt, aber auch mit dunkler Brille im hell erleuchteten Speisesaal sitzt und zum Essen die Mütze weiter trägt. Besonders faszinierend fand ich seinen Honigturm beim Frühstück, wenn er neben zwei Brötchen und Butter sechs Töpfchen Honig auf dem Teller balancierte. Und dann der Mann gleich auf der anderen Seite des Ganges, der im Rollstuhl saß, extra dicke Griffe um sein Besteck bekam, damit er es greifen konnte, und mit Latz seine Mahlzeiten einnahm, der aber fast durchweg eine Heiterkeit ausstrahlte und mit seinen Tischgenossen entspannt parlierte. Ihn hat erkennbar ein Schlaganfall lahmgelegt, aber er macht, so sah es jedenfalls aus, das Beste draus. Hat mir imponiert.
So könnte ich noch weiter um mich schauen in der Erinnerung, aber einstweilen blicke ich einfach nur dankbar auf das sympathische Dreieck mit Klaus und Carla zurück, die mich mit ihrer Liebenswürdigkeit und Zugewandtheit ein gutes Stück durch die Wochen getragen haben. An einer später zu beobachtenden Entwicklung mit Neubesetzungen an einem Tisch war in krasser Form zu sehen, wie sehr das mit so einer Speise-Gemeinschaft in die Hose gehen kann. Wohl dem, der es gut antrifft.
„Erdgeschoss ... Tür öffnet.“
Mittwoch, der 18. Juli, letzter Therapie-Tag, bevor es nach Hause geht. Noch einmal die Begegnung mit meiner Lieblingstherapeutin. Heute nehme ich den Blick von ihr sehr entspannt, auch wenn es mit „Wie geht’s?“ ganz normal startet. Ich lasse sie wissen, dass es mir mit ihr gefallen hat und habe extra ein Gedicht geschrieben. Ja, tatsächlich, zwanzig Minuten Therapie-Pause mussten reichen, um diese medizinisch-lyrische Wertschätzung auf dafür völlig ungeeignetes kariertes Papier zu schreiben. Aber es ist ja die Geste, die zählt. Ich hab mich wohlgefühlt, trotz der Ungewissheit zwischen Begrüßungs- und Diagnoseblick. Oder gerade deswegen. Es war immer spannend, aber eben sympathisch. Und war stets zu meinem Besten!
Ein letztes Mal MTT, wo ich bereits wieder mit 80 Watt durch das Studio radele, ohne mich fortzubewegen, wo ich dem Kniestrecker 30 Kilo auferlege, dem Abduktor 25 und nebenbei noch mit einer Therapeutin zu scherzen in der Lage war. Was auf eine mangelnde Auslastung hindeuten könnte, aber die soll ja noch gar nicht so hoch sein. Daheim wird es weitergehen mit Muckibude, auch wenn es dort nicht mehr MTT heißt, sondern KGG, also Krankengymnastik am Gerät. Aus den Abkürzungen gibt es kein Entrinnen.
Am Tag drauf erwartet mich um halb 9 in strahlender Sonne meine nicht minder strahlende Gattin vor dem Haus. Sechs Wochen war ich hier in Nümbrecht, insgesamt sind fast zwei Monate vergangen, seit ich mit einer Hüftkappenprothese das Zuhause verlassen habe und nun mit einer Total-Endo-Prothese wiederkehre. Die Gehstützen werden mich noch eine Weile begleiten und dann leg ich sie beiseite. Das unterscheidet sie von Tim, Klaus, Carla und meiner Lieblingstherapeutin. Die gehen noch weiter in meinen Gedanken mit.
Und wenn ich dann irgendwann die Stöcke in den Keller bringe, dann ist der Hüfti aus der Mitte zwischen den Gehstützen wieder raus. Und keine Krücke mehr ...