Gepfeffertes - Sprache gut gewürzt

Es wirkt das Wort in Ohr und Seele

Herr Mohr ist verliebt. Also ... vielleicht. Alles sehr unklar. Aber der Bratwurst-Blitz vor einigen Tagen hat ihm ein gedankliches Hoch und Tief nacheinander geschickt, seine innere Wetterkarte ist in Aufruhr. Teil 2 der Trilogie


Herr Mohr und das Aftershave am Adenauerplatz


Geschichtenbild zu Foto: Christian Steinkrüger

Eines blieb immer gleich, seit damals. Obwohl Luise ihn hatte sitzen lassen, nahm er in den mittlerweile vier Jahren Single-Dasein jedes Mal das erste Fotoalbum aus der gemeinsamen Zeit und suchte nach Antworten. Egal für welche Frage. Herr Mohr hockte am Küchentisch und blätterte in der Vergangenheit, darauf aus, ein Problem zu lösen, das vor ihm lag wie eine Eisfläche, für die ihm die passenden Schuhe fehlten. Vor drei Tagen hatte es ihn hinausgezogen, hinaus in die Stadt und zufällig hin zu Clara Kleindienst, der Fleischwaren-Fachverkäuferin in der Metzgerei Wörner. Die ungarische Salami, die er bei ihr gekauft hatte, war aufgegessen. Doch ihr Lächeln und der Duft der Auslage gingen ihm nicht aus dem Kopf, begleiteten ihn in seinen Träumen und auch tagsüber. Herr Mohr war ganz offensichtlich aus der Übung, was Verliebtheit anbelangt, Freihändigfahren nicht mehr drin. Eher brauchte er wieder Stützräder.

 

Auf den vorderen beiden Albumseiten simple Ansichten von Bremen, wie man sie von Postkarten kennt. Nach dem Roland dann das erste Bild von Luise. Sie war ein Phänomen. Wie sie ihm im Februar 1982 einfach so einen Kaffee mit Milch und Zucker hinstellte, als wüsste sie schon jahrelang, wie er ihn am liebsten trinkt. Wie er sie angestarrt haben muss, als sei sie eine Erscheinung. Und wie sie seine Starre dadurch auflöste, dass sie auch noch umrührte und fragte, ob er denn wenigstens alleine trinken könne. Ohne ihren Mut, sich dem interessanten jungen Mann zu nähern und ein Gespräch einzufädeln, wären niemals siebenundzwanzig Ehejahre draus geworden. Er bewunderte sie bis heute dafür. Also … für den Mut. Und er fühlte sich im selben Moment ideenlos, wie er Clara ebenso eine Tasse hinstellen könnte. Was vielleicht in erster Linie daran lag, dass er sie zunächst einmal in ein Café bekommen müsste.

 

Das Fotoalbum hielt an diesem Tag keine Antworten bereit und auch Gernot fiel als Ratgeber aus. Mit seinem fliesenlegenden Freund ließ sich unmöglich ein filigranes Vorgehen besprechen. In seiner rustikalen Denkweise würde er vermutlich vorschlagen: 'Geh doch einfach in die Metzgerei, sag, du wärst noch zu fit für ne Altenpflegerin und ob sie nicht einen Kaffee mit dir trinken will'. Wie scheinbar leicht und gnadenlos geradeaus wäre das. Aber so simpel sind die Dinge nicht. Nicht für Otto Mohr, den kompliziertesten der Komplizierer, der eher fünfzig Kurven in Sichtweite eines Ziels dreht, weil er er dessen Erreichen mindestens genauso fürchtet wie sein Verfehlen. Zumal in Sachen Liebe! Er schlug mit der flachen Hand auf den Küchentisch. Warum, verflucht? Warum war ausgerechnet er diese schüchterne Typ, der entweder von mutigen Frauen ausgewählt wird oder ansonsten im Männer-Regal als Ladenhüter verstaubt? Luise hatte ihn damals dort rausgenommen, einmal tüchtig gepustet und nach anfänglichem Husten die Dinge in die richtigen Bahnen gelenkt. Was sollte denn jetzt wohl dazu führen, damit Clara genau dasselbe täte? Über Krakauer und Schweinskopfsülze hinweg den Mister Niceguy erkennen, ist sowieso nicht leicht, insbesondere wenn er einfach nur vor der Ladentheke steht und kaum Worte rausbringt.

 

Zur Ablenkung schaltete er den Fernseher ein und kurz darauf wieder aus. Frau Kleindienst auf allen Kanälen, weil jede Moderatorin zwangsläufig ihre Gesichtszüge annahm. Ein Blick in die Zeitung, deren Spalten zu einer mehrseitigen Sammlung von Kontaktanzeigen mutierten, egal, ob der Sport- oder Wirtschaftsteil obenauf lag. Das Schlimmste war, dass sein Alltag nicht mehr funktionierte. Er selbst funktionierte nicht mehr. Nachdem Luise ihn verlassen und die Betäubung der leeren Wohnung nachgelassen hatte, wähnte er sich in Freiheit, nahm an, dass ihm das Schicksal schon helfen werde, falls eine Neue seinen Weg kreuzte. Stattdessen spielte es ihm übel mit, und verordnete ihm Schwärmereien für eine Endzwanzigerin. Schmetterlinge im Bauch eines Vorruheständlers flattern zwar etwas langsamer als vor dreißig Jahren, trotzdem schlugen alle Versuche fehl, sich diese Peinlichkeit aus dem Kopf zu schlagen. Er steuerte hier am Küchentisch konsequent einem Magengeschwür entgegen. Oder er sah den Tatsachen ins Auge. Parfümierte Briefe wären noch lächerlicher, also …er musste es wagen! Jetzt!

 

Doch auch Spontaneität will wohlüberlegt sein. Er goss sich eine Tasse Tee ein. Terrain sondieren, Plan zurechtlegen. 'Lerne ausreichend über das Ziel, kenne den Feind', überlegte er, 'anlegen, visieren und … Schuss'. Im Geiste den gewünschten Verlauf bereits vor sich, zweifelte er plötzlich, ob sich mit militärischem Vokabular der Aufbau einer Liebesbeziehung leichter erreichen ließ. Herr Mohr holte Papier und Stift und nahm sich vor, es bei den weiteren Planungen zu vermeiden. Nach zwei Stunden, vier gefüllten Blättern und einer Kanne Tee stand er auf, griff seinen Mantel und verließ die Wohnung.

 

Die Metzgerei Wörner lag friedlich in der Sonne des späten Vormittages. Herr Mohr wartete, bis der Verkaufsraum leer war. Fünfmal tat er das, weil er dann doch jeweils so lange zögerte, bis sich wieder jemand „vordrängelte“. Nun aber war es so weit. 'Ran an den Fei..., ... Speck!', dachte er sich und öffnete mit zittrigem Schwung die Tür.

 

„Guten Tag, Frau Kleindienst!“

„Guten Tag Herr ...“

„Mohr! Ich hatte mich neulich gar nicht vorgestellt. Otto Mohr!“

„Wieder die Salami?“

Was muss er für einen Eindruck hinterlassen haben, dass sie ihn sofort mit dieser Wurst verknüpft, dachte er.

„Ja, zweihundert Gramm, bitte. Und bevor ich hier den halben Laden leerkaufe ...“

Sie hielt inne, die Scheiben noch auf der Gabel.

Sein Blick wechselte von ihr zur groben Leberwurst und zurück, zweimal, dreimal.

„Na? Unsere Auswahl ist nicht klein, aber ...“

„Kakao!“

„Den führen wir nicht.“

„Gespräch!“

„Das führen wir auch gerade nicht. Immer nur ein Wort, Herr Mohr, also bitte! Möchten Sie es vielleicht mal mit einem ganzen Satz probieren?“

Einmal durchgeatmet, dann nahm er allen Mut zusammen.

„Ich hatte Ihnen doch neulich auf der Bank einen Kakao angeboten, erinnern Sie sich?“

Die Türklingel durchbrach den Augenblick. Eine ältere Dame, auf einen Stock gestützt, zwängte sich in ein Minimum an Spalt. Clara stürzte hinter der Theke hervor.

„Moment, Frau Kockerbeck, ich helfe Ihnen!“

Die Kundin erhielt Geleit bis zu einem Stuhl, der offenbar für genau solche Fälle neben dem Tresen stand. Sie setzte sich und verschnaufte, betrachtete Herrn Mohr, der den Rückweg Claras an ihren Arbeitsplatz verfolgte.

„Ach das, ja klar, Herr Mohr. Sie möchten also mit mir ausgehen, richtig? An was dachten Sie denn so? Theater? Kino? Danach zu mir? Oder doch zu Ihnen?“

Otto Mohr, sonst durchaus von gelegentlicher Schlagfertigkeit, sah sein Innerstes verflüssigt. Den Mund leicht geöffnet, echote 'zu mir oder doch zu Ihnen' durch seinen Kopf. Und von links brannte sich ein gezischtes 'Alter Lustmolch' in seine Flanke. Die Kockerbeck hatte aufgehört zu schnaufen, vermutlich weil ihr für Empörung keine Luft mehr blieb. Er wagte nicht einmal aus dem Augenwinkel einen Blick. Clara Kleindienst hingegen lächelte unbeirrt und wog Salami.

„Nun, ...“ Herr Mohr stockte.

„Oh, verzeihen Sie“, schielte sie zur Seite, „jetzt hab ich glatt unser kleines Geheimnis verraten. Das Roast Beef ist übrigens heute im Angebot.“

Seniorin von links schnaufte nun wieder, sein Atem stand still.

„Beef, ja“, stotterte er.

„Ich geb Ihnen einfach mal zwei drei Scheiben zum Probieren mit, das ist köstlich. Um halb sieben an der üblichen Stelle? Und nehmen Sie bitte das Aftershave vom letzten Mal, das duftet so wunderbar!“

„Sicher, was sonst ...“, presste er mit dem Rest Luft heraus, den er noch in sich hatte.

Zum dringend erforderlichen Einatmen verließ er die Metzgerei, begleitet vom gleichsam strahlenden wie stummen Lächeln der Clara Kleindienst.

 

Zurück am Küchentisch stellte Herr Mohr fest, dass er nicht sagen gar konnte, wie er den Heimweg bestritten hat. Einen Fuß vor den anderen, das war gewiss, aber mehr war nicht zu rekonstruieren. Vor allem rätselte er an der 'üblichen Stelle' herum. Was meinte sie damit? Bei zwei Kontakten von einer solchen zu sprechen, würde bedeuten, dass er um 18:30 Uhr an der Metzgerei zu sein hätte, weil es der einzige Ort war, an dem man sich überhaupt so oft gesehen hat. Will sie das?

 

Vor ihm lag das in viele Folien gehüllte Päckchen Wurst. Durch die oberste Schicht schimmerte etwas hindurch. Ahnungsvoll wickelte er und riss, bis die mit dickem blauen Wachsstift aufgebrachte Schrift zu lesen war: 'Halb 7, Straba Adenauerpl'. Nun war der Ort zwar nicht mehr das Problem, wohl aber die Frage, wie es überhaupt soweit kommen konnte. Das forsche Auftreten Claras war ... gibt es eine Steigerung von Überraschung? Und das auch noch im Beisein einer Stammkundin. Freude und Skepsis hielten sich die Waage. Es fühlte sich an wie bei einer Tombola, bei der die Hauptpreise schon gezogen wurden.

 

Herr Mohr blickte nachdenklich auf seinen Schlachtplan. Auf keinem der vier Blätter fand sich ein Hinweis auf das Aftershave, das er auflegen sollte. Oder die Linien, die zum Adenauerplatz fahren. Sein Konzept hatte Lücken.

 

***

 

„Die Fahrkarten, bitte!“ Zwei Minuten vor dem Adenauerplatz griff Herr Mohr routiniert in die Innentasche der Jacke. Sie war leer. Hosentasche links. Leer. Außentasche vorne rechts … nur der Haustürschlüssel. Sein Herzschlag pulsierte bis in die Finger.

Nächster Halt: Wolfsburger Straße

„Ihren Fahrschein, bitte!“

Die Kontrolleurin verstellte den Ausgang des Doppelsitzes und sah aus dem Fenster, als sie das Kramen des offensichtlich angespannten Reisenden bemerkte. Der tastete alle verfügbaren Lagerungsmöglichkeiten für die Plastikkarte ab.

„Hören Sie, ich glaube, ...“

„Dass Sie ohne gültigen Fahrausweis unterwegs sind, nicht wahr?“ Die Augen der Endvierzigerin verengten sich wie durch eine Visiereinrichtung.

„Ich fahre schon ewig mit einer Dauerkarte“, flüsterte er. “Seniorenticket, wissen Sie? Aber ich fürchte, ich habe es zuhause liegengelassen.“

„Das kann doch jedem mal passieren“, stieß die Kontrolleurin energisch hervor, fixierte ihr Ziel und zückte den Block. Das Klicken des Kugelschreibers klang wie die Endstellung des Spannhebels.

„Name?“

Nächster Halt: Adenauerplatz

„Mohr. Hören Sie, ich müsste gleich hier aussteigen. Könnten Sie nicht ein Auge zudrücken? Ich gehe sofort morgen ...“

„Ja, ja, die Sprüche kenne ich. Vermutlich haben Sie nicht mal ein Seniorenticket. Vorname?“

„Also, wenn ich doch sage, dass ich eins habe! Wie kommen Sie dazu, mir zu unterstellen … ich muss jetzt wirklich raus!“

„Dann werde ich Sie begleiten und draußen die restlichen Daten aufnehmen. Gerne kann ich auch die Polizei rufen! Ganz wie Sie mögen.“

 

Der Zug fuhr in die Station. Die unbarmherzige Jägerin fixierte weiter ihr Opfer, das wiederum den Bahnsteig nach Clara absuchte. Sie stand direkt neben einer großen Werbetafel für einen Elektronikmarkt, dessen Botschaft für Herrn Mohr unerreichbar schien. Er fühlte sich gerade äußerst blöd. Mit dem Strafzettelgeier aussteigen? Da hätte er lieber unter den gestrengen Augen der Frau Kockerbeck das Liebeswerben in der Metzgerei fortgesetzt.

Die Bahn kam zum Stehen.

„Also? Soll ich das hier drin weiter ausfüllen, oder steigen wir aus?“

Er blickte noch einmal auf den Bahnsteig, dann geradeaus.

„Otto.“

„Bitte?“

„Der Vorname lautet Otto.“

 

Einige Minuten und Stationen später waren alle Felder ausgefüllt.

„Kann ich mit dem Wisch wenigstens gleich wieder nach Hause fahren?“

„Selbstverständlich! Wir sind schließlich keine Unmenschen.“

„Ach, nicht?“, zuckte es aus Herrn Mohr.

Die Jägerin schien milder gestimmt, ihr Waidwerk war vollbracht.

„Nein, sind wir nicht. Gestatten Sie mir noch eine Frage?“

„Oh, was kann das wohl sein?“ Er blickte sie ernüchtert an.

Sie beugte sich langsam an sein Ohr hinunter: „Was ist das für ein Aftershave? Es duftet sehr gut!“

'Wenigstens ein Treffer', dachte Herr Mohr. Wenn auch auf die falsche Scheibe.

 

(Fortsetzung folgt)

 

 

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