Irgendwann im Leben kommt die Phase, in der man und frau die Verrohung der Sitten beklagt. In der der verkommenen Jugend vorgeworfen wird, was sie alles übertreibt. Doch ein zweiter Blick auf dies und die eigene Vergangenheit verdeutlicht ...
Herr Mohr und die Macht des Schalls
Nach den Geschehnissen rund um eine höchst fragwürdige E-Mail aus Malta hatte sich die Lage gerade wieder ein wenig beruhigt, als Herr Mohr sich über eine weitere elektronische Post wirklich zu freuen begann. Ein Mann in seinem Alter wir nicht mehr so häufig auf Hochzeiten eingeladen. Ob seiner eigenen Erfolglosigkeit bei diesem Thema sieht er gerne zu, wie junge Menschen es versuchen und voller Glückseligkeit auf die Reise starten. Ganz anders als zu seiner Jugendzeit, lud man heute offensichtlich papierlos zu diesem Fest ein. Es machte Pling und schon stand er auf der Gästeliste eines Doodle ... vollkommen ohne sein Zutun. Aber nachdem er sich ein wenig schlauer gemacht hatte, traute er sich und bestätigte seine Einladung mit einem satten Doppelklick. Bei der Frage, ob der Termin in seiner Cloud gespeichert werden sollte, lehnte er jedoch dankend ab. Die Flüchtigkeit einer Wolke schien ihm dafür nicht geeignet. Für eine weitere Recherche, was ein meteorologisches Detail mit seinem Computer zu tun haben könnte, fehlte ihm zu diesem Zeitpunkt die Ausdauer.
Ab dem Doppelklick blieben ihm genau vier Wochen Zeit, um sich angemessen auf das vorzubereiten, was Shania und Marvin als Schritt in eine gemeinsame Zukunft sahen. Herrn Mohrs Nichte und der Bräutigam hatten sich vor anderthalb Jahren bereits dazu entschlossen, die Ehe zu vollziehen. Zwar ohne sie sich überhaupt versprochen zu haben, aber das ist ja mittlerweile üblich und wird auch von Otto vollkommen akzeptiert. Nur mit den Namen tat er sich schwer. Die baldigen Eheleute versetzten ihm damals eine Langzeitgänsehaut, als sie freudestrahlend bekannt gaben, der neue Stammhalter werde mit Vornamen Jason heißen. So sehr er den kleinen Racker schätzt, aber wenn Jason Himmelheber auf dem Unterarm seines Großonkels Platz nimmt, stellen sich Herrn Mohrs Haare sogar unter der Sitzfläche des Jungen auf. Wie eine allergische Reaktion, die sich nicht abstellen lässt. Zum Glück hat er danach keine Pusteln.
Ein neuer Anzug, ein schickes Paar schwarze Schuhe und dank der modischen Beratung von Clara Kleindienst ein Hemd in Altrosa, bei dem er sich noch kurz vor dem Aufbruch fragte, ob er so etwas tragen kann. So ausstaffiert und seine eigene Antwort abwartend bestieg er am Hochzeitssamstag den Bus, um zur Trauung zu fahren. Über die Zeremonie im Gotteshaus pflegt er gewöhnlich den Mantel des Schweigens zu decken. Überraschungen gibt es nur, wenn jemand hinfällt. Ansonsten sind der Einmarsch und das Brautkleid zu bewundern, Tränchen hier, Schluchzen dort, verstörendes Kindergebrüll, Ringe auf zitternde Hände, Baumstammzersägen. Ein evangelischer Pastor, der schon vor Jahrzehnten vergessen hat, wie eine Frau sich anfühlt. Oder ein katholischer, der es sowieso nicht weiß und auch genau so spricht. In den Kirchen gab es in all den Jahren nur wenig zu erleben, was ihn wirklich beeindruckte.
Ganz im Gegensatz zu dem, was anschließend in den Festsälen stattfindet. Herr Mohr fürchtete sich fast davor, etwas zu verpassen und blieb daher meist bis zum Schluss. Seine Trinkfestigkeit war nie bundesligatauglich und so dümpelte er seit einer Ewigkeit auf Anfängerniveau herum, was aber immerhin eine gewisse Leistungsfähigkeit beim Zuschauen brachte. So auch heute.
Auf der Hochzeit hat man Britta Broemel neben ihn gesetzt. Die Apothekerin aus der Straße der Himmelhebers wird in den Augen der frischgebackenen Eheleute für mehrfache Lebensrettungen des kleinen Jason verantwortlich gemacht. Sie selbst gestand Herrn Mohr in einem vertraulichen Moment zwischen Suppe und Vorspeise, dass sie sich lediglich an Globuli und Heftpflaster erinnere, die sie der aufgeregten Mutter verkauft habe. Aber irgendwie sei es ja auch ganz witzig, durch die Verabreichung weißer Kügelchen auf die Gästeliste einer Hochzeitsgesellschaft zu gelangen. Sie freue sich über das leckere Essen und lasse den Abend einfach mal auf sich zukommen. Diese Haltung gefiel Herrn Mohr und er freute sich, dass Frau Broemel neben ihm saß.
Nach dem Hauptgang scheint es üblich, zumindest einen Teil der Gesellschaft in Bewegung zu versetzen. Unglücklicherweise war Otto als Onkel noch nicht alt genug, um in Ruhe gelassen zu werden. Beim Spiel „Märchenkutsche“ verpasste man ihm die Rolle des Kutschers und mehr als dreißig Mal musste er in der Folge aufspringen und seinen Stuhl umrunden. Die Leute hatten Tränen in den Augen und Herr Mohr Perlen auf der Stirn, als er zu seinem Platz zurückkehrte.
„Frau Broemel, haben Sie zufällig Stift und Papier zur Hand?“
„Nein, wofür denn auch?“
„Ich plane, mein Testament aufzusetzen. Dieses Spiel werde ich auf meiner Trauerfeier durchführen lassen und mir ist gerade danach, die Rollen festzuschreiben. Ich schwöre Ihnen, man wird mich aus dem Sarg lachen hören. Und wenn die glauben, sie seien fertig, lüfte ich kurz den Deckel, grinse, sage der Mischpoke, dass es zur Freude des Tages fünf Runden gibt und dann leg ich mich wieder hin!“
„Ach, kommen Sie, gönnen Sie doch den jungen Leuten ihren Spaß.“
Davon hatten sie in der Folge noch jede Menge. Die Uhr ging auf Drei zu, als der DJ die Liedfolge dem bis dahin zugeführten Alkohol anpasste. Im Saal sortierte sich eine Zwei-Klassen-Gesellschaft.
„Frau Broemel, wie lange gehören Sie denn schon zur ergrauten Garde, die außen drum herum sitzt, während die Jugend hüpft?“
„Du sollst doch Britta sagen, Otto!“
„Entschuldige, Britta. Also, seit wann ...“
„Ach, hör auf, ich warte nur auf das passende Lied, dann kannst du sehen, dass das keine Frage des Alters ist.“
„Ich bitte dich. Was singen die da? Schatzi, schenk mir ein Foto?“
„Ja und?“
„Was, ja und?“
„Ist das nicht peinlich?“
„Was bist du für ein Jahrgang, Otto?“
„Sechsundfünfzig, wieso?“
„Dann vervollständige diesen Satz: Sag mal, wo kommt ihr denn her ...“
„Na, ... aus Schlumpfhausen bitte sehr!“
„So, jetzt noch mal zur Ausgangsfrage: Was ist peinlich?“
„Das kann man doch nicht vergleichen“, empörte sich Herr Mohr.
„Kann man nicht? Was ist daran anders, als du besoffen warst und der Flötenschlumpf anfing?“
„Hm.“
„Wie lange konntest du die Biene Maja weitersingen, selbst wenn keine Musik mehr spielte?“
„Länger.“
„Griechischer Wein, zerrissene Jeans, Himbeereis zum Frühstück ... alles Dinge mit Sinn und Verstand, wie ich annehme?“
„Der Schnee, auf dem wir alle talwärts fahr’n, Britta, den hast du vergessen. Und die Sennerin vom Königssee.“
„Also, ich sehe, du kapierst langsam“, sagte sie und tätschelte ihm die Schulter. „Was spielen sie eigentlich jetzt gerade?“
„Das fragst du mich? Ich kenne doch den Kram nicht.“
Sie hörte einige Sekunden dem Text zu.
„Ach, das ist ‚Dicke Titten Kartoffelsalat’.“
„Bitte?“ Die stetige Furche auf seiner Stirn vertiefte sich zu einem Graben.
„Ist von Ikke Hüftgold.“
„Was du nicht sagst.“
„Jetzt hab dich nicht so.“
„Nein, nein, irgendwo ist Schluss!“, sagte Otto. „Ich glaub, ich brauch doch noch ein paar Bier.“
„Ja, ja, sieben Fässer Wein können manchmal die Rettung sein!“
„So viel bloß nicht, sonst wach ich morgen wieder im Kornfeld auf.“
„Durchaus kein schlechter Platz, von dort aus siehst du nämlich den Sternenhimmel!“
„Stimmt auffallend, vielleicht ist sogar einer dabei, der deinen Namen trägt“, schmachtete er Britta an.
„Oh, du Charmeur. Wie lange kennen wir uns jetzt? Sieben Stunden?“
„Ja, immer wieder erstaunlich, welch seltsames Spiel die Liebe ist.“
„So weit seh ich uns noch nicht, aber es ist schon die pure Lust am Leben. Zumindest heute Abend.“
„Immerhin ...“
Dann standen beide auf und tanzten zu ‚Dicke Titten Kartoffelsalat’. Herr Mohr hoffte inständig, es gebe keine Foto-Beweise von dieser Szene, das könne man auf seiner Trauerfeier gegen ihn verwenden. Als sie ‚Der ganze Bus muss Pipi’ spielten, fühlte sich Otto in der Stimmung, genau demselben Drang nachzugeben. Die Biere, die er intus hatte, forderten ihren Tribut. Als er an den Beckenrand trat und schließlich entspannt die Fliesen musterte, überraschte er sich selbst. Er flötete, Schatzi solle ihm doch bitte ein Foto schenken ... und erkannte die Macht des Schalls.
Im Saal pflügte Frau Broemel weiter ohne erkennbaren Energieverlust durch die Jugendlichen. Herr Mohr griff sein Sakko. ‚Finger im Po, Mexiko’ und vor allem die pantomimische Andeutung der Apothekerin war eine Nummer zu groß für sein Gemüt. Es war das Signal zum Aufbruch. Er winkte noch einmal hinüber zu Britta. Die erwiderte und brüllte: „Paris, Athen, auf Wiedersehen!“
Beim Warten auf den Bus begriff er abermals, dass er chancenlos war. Gegen die Biere und gegen die Macht. Die Türen öffneten sich, etwas angeschlagen sah er die Fahrerin an, hielt ihr das Ticket hin.
Sie lächelte.
„Und heut’ Abend ... hab ich Kopfweh ...“