Der Kerl ist ein Typ. Ein schräger, ein schrulliger, aber einer, den man sich merkt. Rüdiger ist einem auch nicht egal. Entweder man mag ihn, oder man findet ihn schrecklich. Dazwischen gibt es nichts. Für mich ist er eine Aufgabe. Eine richtig große ...
Rüdiger
„Immer wenn ich nicht weiß, worüber ich schreiben soll, schreib ich über das Leben!“
Der Satz klang für mich immer wie eine Einladung, kein Thema finden zu müssen. Rüdiger wolle, sagt er dann stets, auf eine Kreativparty mit sich selbst gehen. In dem Moment, wenn er das sage, hättte er noch keine Ahnung, worüber er dort mit sich plaudern könnte. Das Wichtigste sei für ihn, er käme geistig mal vor die Tür. Meist aber drückt meinen Freund eine melancholische Schwere in den Sessel. Für mich sieht es jedenfalls so aus. Er hockt einfach da und guckt. Es ist so ein Gucken, als starre er in einen leeren Karton. Als ob er darauf wartet, dass sich durch sein Gucken etwas in der Kiste materialisiert. Schaut von außen so aus, als wäre sein Gehirn schon im Jenseits. Rüdiger hingegen nennt diese Stimmung seine „literarische Gleitcreme“. Nur aus dem wirklichen Nichts wüchsen Ideen, daran glaubte er fest.
Rekordverdächtig sind die Momente, in denen ich voll in die Fresse kriege, dass er eben doch etwas denkt. In denen er mich mit seinen berüchtigten Denkanstößen überfällt. Neulich fuhren wir Straßenbahn. An der vierten Station fragte er mich: „Sag mal, sitzt du wirklich aus Überzeugung hier neben mir?“
Das sind die Augenblicke, die mir von einer Sekunde auf die nächste Angst einjagen. So als sage er mir: „Hinter dieser Tür ist ein scheußliches Monster. Keine Bange, schau es dir ruhig mal an!“ Und du stehst da, hast die Klinke schon in der Hand und die Hosen voll.
„Wie kommst du drauf, das es mir an Überzeugung fehlt, mit dir hier zu sitzen? Wir fahren zum Fußball, haben uns dazu verabredet, also ... wir haben dasselbe Motiv, oder?“
„Denkanstoß: Weil du mit dem rechten Fuß zuerst in die Bahn eingestiegen bist! Ein Schritt in die Ferne, den du nicht mit dem Herzen gegangen bist!“
Gerne hätte ich eine spontane Antwort gegeben, aber das wäre unklug. Ich habe es mir abgewöhnt. Sowas motiviert Rüdiger nur dazu, den kompletten Sauerstoff im Raum für eine Begründung zu veratmen. Er braucht eine Entgegnung, die ihn selbst vor eine Aufgabe stellt. Blöd nur, dass mein Hirn in solchen Augenblicken mechanisch funktioniert und er von außen das Rattern der Rädchen zu sehen scheint. Im Gefühl der Zeitnot presste ich heraus: „Ein Schritt in die Ferne, den du nicht mit dem Herzen gegangen bist? Klingt wie ne Acht auf der Rosamunde-Pilcher-Skala. Tendenz nur Neun.“
Er schaute empört, vor ihm der Abgrund des Klischees, an den ich ihn geschoben hatte. Tatsächlich ein Moment des Schweigens. Er war sich bewusst, dass er nun eine autorenwürdige Antwort brauchte, so triefend von Lebensweisheit und Intellekt, dass ich erst mal eine Weile mit Aufwischen beschäftigt wäre.
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Rüdiger Borchelt. Halbwaise von Geburt an. Der Vater war mit Bekanntwerden der Schwangerschaft am Verflüchtigungssyndrom erkrankt und wie vom Erdboden verschluckt. Aus Verlegenheit witzelte Rüdiger ab und an, er stamme aus einer kinderlosen Ehe. Mutter Borchelt säugte ihn mit Weisheiten, die er auswendig lernte. Milch vergaß sie. Er war vier, als er mir im Sandkasten zum ersten Mal begegnete und meinen Versuch einer Sandburg mit den Worten beschrieb: „Das Ding ist der Vergangenheit näher als der Zukunft.“ Eine für Vierjährige durchaus unübliche Antwort. Ich zog ihm die Schippe über den Scheitel, weil ich keine Ahnung hatte, auf welche Art er mich gerade beleidigt hatte. Anschließend wurden wir Freunde.
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Derselbe Rüdiger, der in der Straßenbahn überlegte, wie er mir intelekktuell den Wind aus den Segeln nehmen könnte, stand eine Stunde später im Stadion in Wurfentfernung eines Bierbechers vom Gästeblock und bedachte die wenigen Damen und zahlreichen Herren aus einer fremden Stadt mit Schmähgesängen. Bis ich es zum ersten Mal hörte, hätte ich geleugnet, dass Rüdiger weiß, was eine Bahnhofsmission ist. Er war mir in der Bahn die Antwort schuldig geblieben. Gemeinschaftlich schrien wir uns für unsere Mannschaft die Seele aus dem Leib, wie so oft vergebens. Die Stimmung auf der Heimfahrt war geprägt von der Ernüchterung, gegen einen potenziellen Absteiger nur einen Punkt geholt zu haben und den Bierwolken, die rülpsende Maskottchen-Träger geschickt an ihrem Gyros-Komplett vorbei ausstießen.
„Bist du immer noch der Meinung, ich hätte die Fahrt in die Ferne nicht mit dem Herzen angetreten“, fragte ich vorsichtig.
„Du hättest mit links losgehen müssen“, antwortete Rüdiger.
Es ist ein spezieller Moment, in dem man realisiert, dass einem der Freund auf die Füße guckt, wenn man ins Stadion aufbricht.
„Wirfst du mir gerade mangelnde Loyalität gegenüber unserem Verein vor, weil ich den ersten Schritt nicht mit links gemacht habe? Ich bin heiser vom Gebrüll, reicht das nicht als Beweis?“
Das, was jetzt kam, ist eine späte Rache für die Sandburg-Bemerkung vor einer Ewigkeit. Eigentlich brauche ich die gar nicht, die Rache, aber es ist so faszinierend, Rüdiger dabei zuzusehen, wie er ins Schlingern kommt. Immer, wenn er in dieses Stadium eintritt, verhakt er die Finger, schaut nach unten und blinzelt. Ich hatte einen genialen Einfall.
„Ich hab übrigens eben mehr mit dem linken Stimmband gegrölt, als mit dem rechten, aber das hast du vermutlich gar nicht bemerkt, was?“
Yes!!! Der saß! Technischer K.O. in der neunten von zehn Runden. Ich war mir sicher. Rüdiger und seine Weisheiten taumelten, er schnappte mehrfach in kurzen Zügen Luft.
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Rüdiger Borchelt. Mit vierzehn Jahren war er einen Meter vierundsechzig, als sein Körper beschloss, für die nächsten Jahre seine Energie in das Wachstum von Pickeln zu stecken. Die Akne verließ ihn mit Achtzehn, die Körpergröße blieb. Für eine Weile dachte er darüber nach, Schuhe mit Plateausohlen und besonders langen Schlaghosen zu tragen, weil Mädchen in dem Alter nicht auf kleinere Männer stehen. Aber über eine Testphase kam er nicht hinaus. Es hatte ihn schon mehrere Anläufe gekostet, sich von seiner Schwester ein Paar passende Schlappen mitbringen zu lassen. Schließlich versuchte er, der Damenwelt auf Augenhöhe zu begegnen und merkte schon bald, dass er dafür andere Sphären erreichen musste. Er fragte mich um Rat. Anschließend gingen wir zur Uni.
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Blicke aus dem Fenster. Blicke auf der Suche nach der Rettung. Nachdem unser Verein nur Unentschieden gespielt hatte, durfte Rüdiger nicht auch noch verlieren. So nämlich empfand er selbst ein Remis. Er überlegte, sammelte sich.
„Weißt du, etwas mit links zuerst zu tun, zeugt von einer gleichermaßen emotionalen wie intellektuellen Reflektion, die diesem ersten Schritt vorangeht.“
Ich gestehe, dass ich ihn zu diesem Satz nicht mehr für fähig hielt. Also, in jenem Moment. Generell natürlich schon. Aber nach vier großen Plastikbechern Bier nicht. Umso fataler war, dass mein unnötiger fünfter Becher, den ich aus reinem Überschuss an Testosteron noch zu benötigen dachte, jetzt eine Replik deutlich erschwerte. Als Ersatz stieß ich ein Bäuzerchen aus. Wir hatten diese Kombination aus Aufstoßen und Seufzen mal so getauft. Für gewöhnlich der Schlussakkord in unseren Duellen. Danach herrschte meist Schweigen.
Die Straßenlaternen zogen Fäden von kaltem Licht auf den verregneten Scheiben der Straßenbahn. Nasser, gebrochener Asphalt, durch den an einigen Stellen das frühere Kopfsteinpflaster wie aneinander gereihte Glatzen aussah. Eine trügerische Stille war auf dem Heimweg entstanden. Rüdiger hob den Kopf, die Augen verengten sich, als er mich anschaute. Ich kannte diesen Blick. Wenn du denkst, es ist vorbei, kommt er mit diesem Blick, um dir den finalen Stoß zu versetzen.
„Ich wette“, begann er gemächlich, um dann eine Augenbraue und einen Finger zu heben, „du weißt nicht, warum der Puffreis Puffreis heißt.“
Er hatte recht. Ich wusste es nicht. Doch diesen Kampf gedachte ich nicht zu verlieren. Heute wandert der Stier mit aufrechten Hörnern aus der Arena, zwang ich mich zu glauben. ‚Liebes Universum’, flehte ich innerlich, ‚schenk mir ein Mal, nur ein einziges Mal eine Antwort, auf die Rüdiger keine Entgegnung mehr einfällt. Von der ihm der Mund offen stehen bleibt und ich ihn daran erinnern muss, dass Atmen nicht zu vergessen. Von der ich noch meinen Enkeln erzählen kann und die, wann immer ich davon schwärme, ihn betreten zu Boden blicken lässt.’
Die Synapsen des Universums ratterten hörbar, auch wenn alle anderen drumherum es für Fahrgeräusche der Straßenbahn hielten. Schließlich formierte sich auf meiner Zunge das Ergebnis dieses Prozesses.
„Puffreis? Weißt du, Rüdiger, um es offen zu sagen: Die speziellen Bedürfnisse von Uncle Ben’s waren mir immer schon ziemlich egal.“
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Rüdiger Borchelt. Mit Fünfundvierzig waren graue Stellen in seinem Bart nicht mehr zu leugnen, von den Schläfen ganz zu schweigen. In einer Kontaktanzeige im Frühjahr bezeichnete er sich selbst als „pflegeleichten Zeitgenossen mit Hang zur gutem Essen und Rechthaberei, der eine redegewandte und widerstandsfähige Köchin suche“. Als er sich wunderte, darauf keine Rückmeldungen erhalten zu haben, empfahl ich ihm, ehrlicher zu sein, das „pflegeleicht“ zu streichen und die Anzeige in den Bereich „Arbeitsangebote“ zu verschieben. Er verstand nicht, was ich meinte, wollte aber mehr über Frauen wissen. Anschließend gingen wir ein Bier trinken.
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Ich danke dem Universum. Es hat funktioniert.
„Komm, Rüdiger, wir müssen aussteigen. Und hol mal wieder Luft, du bist schon ganz rot.“